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Resumo:
Der narrative Entwurf von Boccaccios ›Decameron‹ und Boccaccios theoretische Reflexionen über das Erzählen stehen klar im Fluchtpunkt der horazischen Lehre des prodesse et delectare. Vor diesem Horizont entwickelt Boccaccio sein Konzept des novellare, das einerseits ein ‚Wiedererzählen’ (analog zu mhd. erniuwen) beinhaltet und andererseits zu einer neuen Autonomie des Erzählens vorstößt. Beobachten lässt sich dieser Vorgang des Erneuerns weniger in Boccaccios theoretischen Ausführungen (etwa im Schlusswort des ›Decameron‹ oder in den ›Genealogie deorum gentilium‹) als in seiner dichterischen Praxis. Als Schlüsseltext wird im Vortrag die Novelle von der duldsamen Griselda herangezogen, die das ›Decameron‹ beschließt und die mit den Worten una bella roba endet. Das ‚schöne Kleid’ ist einerseits traditionelle Dichtungsmetapher (im Horizont des investire bzw. integumentum), andererseits intradiegetischer Bestandteil des Erzähl-‚Stoffs’ der Novelle. Bei Boccaccio dürfte das Gewand der Griselda, zusammen mit deren wiederholt thematisierter Nacktheit, dazu dienen, eine in die Novelle verpackte stoische Lehre zu vergegenwärtigen, diese in eine Erzählung ‚einzukleiden’. Das Kleid der Griselda wird so zur ‚Pathosformel’ (in der Begrifflichkeit A. Warburgs) bzw. zum ‚Faltenwurf’ (in der Begrifflichkeit G. Didi-Hubermans), mithin zur Verkörperung eines ‚neuen Erzählens’, das sich (im Gegensatz etwa zu Dante) von metaphysischen Entwürfen emanzipiert und in der Autonomie sprachlicher Kunstfertigkeit, bis an die Grenzen des Erzählbaren gehend und didaktische Ansprüche überwindend, die Möglichkeiten literarischer Darstellung ausreizt. Von den Zeitgenossen wurde dieses Experiment zwar wahrgenommen, in seinen Dimensionen aber nur ansatzweise erkannt. Symptomatisch für diese Form der Rezeption ist Petrarcas lateinische Übersetzung der ›Griselda‹-Novelle (›Seniles‹, XVII,3), wobei der Verfasser – seinerseits die Kleidermetaphorik bemühend – das Übersetzen als ein stilo alio retexere auffasst und seine Version den (wohl vorwiegend männlich intendierten Lesern) als auf Gott hin orientierte Lehre anempfiehlt: ut legentes ad imitandam saltem femine constantiam excitarem, ut [...] hoc prestare Deo nostro audeant. Diese Rückführung von Boccaccios erzählerischem Wagnis ins Didaktische zeigt sich auch in der Rezeption von Petrarcas Übersetzung, durch welche die Novelle im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts weite Verbreitung fand: In einer der Haupthandschriften von Chaucers ›Canterbury Tales‹, dem Hengwrt Manuscript (Aberystwyth, National Library of Wales), wird die auf der ›Griselda‹-Novelle aufbauende Erzählung des Scholaren (›The Clerk’s Tale‹) mit Bestandteilen aus Petrarcas Übersetzung glossiert; in einer Handschrift aus dem Besitz des Nürnberger Humanisten Hartmann Schedel (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 504) wird Petrarcas Konzept des stilo alio retexere erläutert als: claram facere, nudare [...], aperire, wobei hier die in Boccaccios Novelle intradiegetisch enthaltene Spannung von ‚Einkleidung’ und ‚Nacktheit’ auf einer lehrhaften Ebene fortwirkt.